Der Ring der Niederungen


 

Zu meiner Cousine zweiten Grades Xenia-Scarlett hatte ich nie ein besonders gutes Verhältnis. Das kann man durchaus so sagen. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr getroffen. Sie war schon als Kind eine Katastrophe. Sie weinte, wenn sie etwas wollte. Und sie bekam es. Immer. Das Fiese daran: Sie wollte immer das, was Stella oder ich hatten. Wenn wir es ihr nicht freiwillig gaben, fing sie an zu weinen. Ihre Mutter kam dann jeweils angerannt, eine Nanny im Schlepptau. Dann lief es immer nach folgendem Muster ab:

„Was ist denn los, meine Prinzessin?“

„Huuuh. Ich bin sooooo traurig.“ 

„Warum denn, mein Goldkind?“

„Ich kann es nicht sagen. Huuuuuh.“ 

„Warum denn nicht? Nanny, was hat das Kind?“

Nanny: „Hast du Angst?“ 

Nicken. 

„Vor wem?“

Schulterzucken. Blick zu uns. 

„Du hast Angst vor Stella und Vena? Waren sie wieder primitiv?“

„Huuuuuh.“

„Xenia-Scarlett, sie sind halt einfacher als wir. Aber das gibt ihnen nicht das Recht, deine Sachen zu nehmen und dich zu verängstigen.“

„Huuuh.“

„Gebt ihr sofort das …(hier wird eingesetzt, was sie gerade will oder was eine von uns in den Händen hält). Und wehe euch, ihr Bälger, lasst mein Goldkindchen in Ruhe.“

Und das war es. Jedes Mal. 

Kaum waren die dümmliche Nanny und Claudine Antoinette weg, war die Angst aus Xenia-Scarlett gewichen. Sie grinste, nahm sich, was sie wollte und war noch ekliger als vorher. 

Und so war sie an guten Tagen. 

Stella und ich haben sie keinen Tag vermisst. Sie kam nur an wenigen Burgfeiern und keinem fiel das negativ auf. Doch dann schaffte sie es, sich ins Zentrum der Familiengeschichte zu katapultieren. Nicht mit ihrer brillanten Karriere in Public Relations. Obwohl ihre Mutter von ihr berichtete, als sei sie die Erfinderin der Kommunikation. Nein, sie schaffte es mit einem Ring. 

Dem Siegelring von Cosimo von Diskrup. An einer Kette. Um ihren Hals. An einer Perlenkette! Wie geschmacklos. 

Die Schlampe.

(Sorry, das musste sein). 

Ich muss euch die Geschichte ganz erzählen. Das fällt mir nicht leicht. Wir schon angetönt: Sie sind ein Paar. Kotzio und Heulsuse. Und das musste sie uns ausgerechnet an unserem ersten Treffen nach der ersten Burgrettungsaktion durch Stella und mich mitteilen. Am Geburtstag von Henriette. Wie konnte sie nur. 

Ich bin immer noch wütend. Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen. 

Sie hat es geschafft, dass sich nicht mehr alle freuen, weil wir auf dem richtigen Weg sind, die Burg zu retten. Nein, plötzlich waren alle betrunken oder wütend. Oder beides.  

Ich finde sie echt blöd, falls man das noch nicht bemerkt hat. 

Sie stand mitten beim Teetrinken auf, klopfte mit der Zuckergabel an die Tasse (wer macht denn bitte so was?) und verkündete: „Liebe Verwandten, es ist Zeit, die leidige Angelegenheit mit dieser lächerlichen Familienfehde beizulegen. Ich als PR-Expertin weiss, dass hier viel auf falsche Kommunikation zurückzuführen ist. Darin waren unsere Vorfahren nun wirklich keine Meister. Ich will nicht ohne Stolz mitteilen, dass ich es bin, die hier den ersten Schritt tut. Cosimo von Diskrup und ich sind liiert.“ Dabei hob sie den Siegelring triumphierend in die Höhe. Es sah aus, als würde sie sich selber an der Perlenkette aufhängen. 

Schweigen. Dann fielen Tassen zu Boden. Mein Vater zertrümmerte mit seiner Faust 9 Cupcakes, und er liess uns keine Chance, noch einen unschuldigen Cupcake zur Seite zu schaffen, bevor er aufstand und wortlos den Raum verliess. Meine Mutter blickte sehr finster und sah Xenia-Scarletts Mutter an, als sei diese ein stinkender Müllsack. Mehrere andere Verwandte und deren Anhang gingen leise raus und fingen draussen an zu fluchen. Ein Tisch war nachher zerkratzt, ein Stuhl flog gegen eine Wand. Wer das gewesen war, konnten wir nicht mehr eruieren. Doch ich bin irgendwie stolz auf diese wilde Seite, die ich bei keinem meiner Verwandten vermutet hätte. 

Stella und ich sahen uns an. Ich konnte nicht anders. Ich machte den Mund auf und gerade, als ich etwas sagen wollte, hörte ich Stella „Miststück“ sagen. Treffender hätte ich es nicht formulieren können. 

Wir verliessen den Raum.

Die missverstandene Xenia-Scarlett griff auf ihr bewährtes Mittel zurück. 

„Huuuuh“ hörten wir es aus dem Teesalon jammern. Ihre Mutter stand ihr bei. Die beiden verliessen die Feier. 

Xenia-Scarlett warf sich jedoch noch im Türrahmen dramatisch in Pose und rief: „Auch Romeo und Julia setzten sich über die Borniertheit ihrer Familien hinweg.“

„Die starben am Schluss, du Idiotin.“ hörte ich Henriette sehr kalt sagen. 

Dann schnappten Claudine und Xenia-Scarlett wütend nach Luft und verschwanden. 

Daraufhin wurde es abwechselnd laut und leise, je nachdem, wer trank und wer gerade in einem Sofa hing. Es dauerte die ganze Nacht. Wir wussten, dies war eine neue Situation und wir mussten das Trauma gleich im Kern ersticken. Oder ertränken. Oder, in meinem Fall, mit den zertrümmerten Cupcakes, runterkämpfen. 

Henriette war es, die uns darauf hinwies, dass Xenia-Scarlett ja nun quasi unsere Spionin bei den von Diskurps sei. Wir verfielen in hysterisches Lachen. 

Mitten in das Lachen hinein fragte mein Onkel Thomas: Welcher von den zwei Bubis ist eigentlich Cosimo? Der mit dem Schleimhaar oder der andere?

Mehrere von uns mussten überlegen. Ich wusste es. „Der mit dem Schleimhaar. Er war ja noch nicht vor allzu langer Zeit hier.“

Ich musste mich schütteln, wie einer der Cockerspaniels meines Grossvaters. Cosimo. Widerlich. 

Alles schwieg. Ich konnte diese Prinzessinnen, die Kröten küssten, plötzlich verstehen. Lieber 1000 Frösche als einen von Diskrup! 

Am nächsten Tag geschah dann erstmal gar nichts. Mir war schlecht. Stella hatte Kopfschmerzen. Alle anderen waren ebenfalls unter Schock oder am Wiederbeleben. 

Erst am Abend kam eine SMS von Henriette. Sie verlangte, dass Stella und ich uns bei ihr einfinden sollten.

Wenn Henriette sich dazu durchringt, eine SMS zu schreiben, dann war es wirklich dringend und ernst. Stella und ich trafen gleichzeitig bei ihr ein. 

Sie sass an ihrem Schminktisch und hatte vor sich sämtliche Ringe ausgebreitet, die sich in ihrem Besitz befanden. Das waren nicht wenige. Ihr Schminktisch hatte drei Flügeltüren. Er war wie ein Altar der Schönheit und des Schmucks. 

Henriette achtete nicht auf uns. Sie wühlte in ihren Ringen. 

„Wonach suchst du?“ fragte ich. Das war die naheliegende Frage. 

„Wonach wohl? Nach meiner Zahnbürste sicherlich nicht.“ antwortete Henriette leicht genervt. Stella und ich sahen uns an. So kannten wir sie nicht. Hatte ihr die Geschichte vom Vortag zu sehr zugesetzt?

Sie drehte sich zu uns. „Ach, ich bin etwas ungeduldig. Das hat nichts mit euch zu tun. Schön, seid ihr hier.“ Sie lächelte. 

Dann sah sie wieder in den Ringberg auf dem Schminktisch und zog einen Ring mit zwei Fingern heraus. „Da ist er ja.“ 

Sie hob den Ring in die Höhe. Wir sahen ihn an. Er war hässlich. Richtig hässlich. Ein langweiliger, hässlicher Siegelring. 

War ihr gestern doch ein Schaden zugestossen? Hatte sie vor Schock den guten Geschmack verloren? War das nun eine Gewohnheit, einen hässlichen Ring in die Höhe zu halten?

„Schaut doch nicht wie Rehe im Scheinwerferlicht. Ich erkläre es euch. Kommt her.“

Wir setzten uns auf zwei gepolsterte Hocker zu ihr. 

Der Ring war aus der Nähe nicht weniger geschmacklos. Er war protzig, Gold, massiv, mit rechteckigem Siegelboden. Das Siegel stellte eine Lanze oder einen Pfeil dar (man konnte es schlecht erkennen, es war extrem stümperhaft gemacht) und ein Ei. Oder so ähnlich. 

„Das, liebe Nichten, ist der Siegelring der von Diskrups.“ 

Instinktiv wichen Stella und ich etwas zurück und ich konnte mir ein „Iihhhgittt.“ nicht verkneifen. 

Stella war schneller. Sie sprang auf. „Wie pervers ist das denn? Was macht der bei deinem Schmuck?“ Sie blickte schockiert. 

Henriette zog eine Augenbraue hoch. „Setz dich. Denk diesen Gedanken nicht weiter. Er ist töricht. Wenn etwas schlicht unmöglich scheint, ist es das wahrscheinlich auch.“

Stella setzte sich. Henriette lächelte. 

„Meine lieben, gestern war ein ernüchternder Tag. Wir haben nun den Beweis, dass Xenia-Scarlett nicht die hellste ist und einen schlechten Geschmack hat. Ich hatte schon so meine Befürchtungen, als sie mit zwölf noch immer nicht alleine von einem Burgturm zum anderen gehen konnte und als Berufswunsch „Frau vom reichsten Mann im Land“ angab. Doch man hofft. Nun, das ist vorbei.“

Sie sah den Ring an. 

„Das ist der echte Siegelring der von Diskrups. Ich hatte ihn völlig vergessen. Bis mir Xenia gestern diese lächerliche Fälschung entgegen hielt. Und da begriff ich etwas, das sehr wichtig ist für uns. Und die Burg.“

Stella sah mich an. Ich sah sie an. Konnte es noch spannender werden? 

„Ich habe heute mit der Anwältin telefoniert. Der Vertrag, auf den sich die von Diskrups berufen, er ist eine Fälschung.“

„Was? Das ist ja genial!“ 

„Leider nein. Wir können es nicht beweisen.“ 

„Was? Das ist doch nicht möglich!“

„Doch. Ich will, dass ihr es versteht. Wir können es jetzt nicht beweisen, doch ihr müsst es wissen. Vielleicht haben wir ja nochmals Glück. Richtig viel Glück.“ ergänzte sie. 

„Das Dokument mit der Schuld unseres Vorfahren und dem Kaufs- und Verwertungsrecht war in einem sehr schlechten Zustand, als die von Diskrups es bei einem Notar hinterlegten. Ich habe es gesehen. Wir haben Fotos. Die Unterschriften fehlten. Doch beide haben ihren Siegelring in Siegelwachs gedrückt. Das was so üblich. Schaut her.“

Sie hielt uns ihr Tablett unter die Nase. Wir sahen eine Vergrösserung der Siegel. Unser Siegel war klar erkennbar. Die Burgumrisse und die Buchstaben AOV. Das war unser Siegel. 

Das andere Siegel war pompös. Ein verschlungenes D mit Flammen und einem Wappen. Typisch von Diskrup. 

„Seht ihr. Ich hatte immer ein schlechtes Gefühl bei diesem Dokument und jetzt weiss ich wieder warum. Das ist nicht das alte Siegel der von Diskrups. Das ist ein modisches Zeug, das sie sich haben machen lassen. Doch früher war es mehr als hässlich und das D sah aus wie ein Ei, das gestochen wird. Daher der alte Übername ‚Eiernadel-Eieradel.“

Das habe ich noch nie gehört. Oder doch?

„Vena, das haben wir doch früher auch gesagt. Das hat uns unsere Urgrossmutter einmal erzählt und wir fanden es so lustig. Als dich Cosimo mit Schlamm beworfen hat und du so traurig warst. Da hat sie gesagt: ‚Ach, einer von Eiernadel-Eieradel, der kann einer Lady von der Schmuckburg nichts anhaben.“ 

Das stimmte. Das stimmte wirklich. Eiernadel-Eieradel. Das war der Übername der von Diskrups. Wie konnten wir das nur vergessen!

Und das bedeutet, dieses Dokument war eine Fälschung. 

Und das war gut, denn dieses Dokument war schlecht. 

Oder?

„Es hilft nur leider nicht sehr viel, denn wir können es nicht beweisen. Ich bin auf nicht ganz legale Weise an diesen Ring gekommen.“

Das war zu viel. Meine überkorrekte Tante hatte sich auf illegale Weise den alten Siegelring der Erzfeinde besorgt? Stella schien das Ganze sehr viel lockerer zu sehen und schaute interessiert. Ihr Pferdeschwanz wippte. Sie konnte schlecht verstecken, dass sie das Ganze wahnsinnig spannend fand. 

„Ich kann es euch jetzt nicht erzählen. Doch ihr müsst wissen, Xenia-Scarlett hat uns einen Gefallen getan. Ich habe mir immer gedacht, dass es einfach unmöglich ist, einen so bescheuerten Vertrag abzuschliessen. Selbst für unsere gutgläubigen Vorfahren.“

„Aber, unser Siegel ist richtig. Wie kann es eine Fälschung sein, wenn nur das Siegel der anderen falsch ist?“ Ich sah nochmals auf das Tablett mit den Bildern des elenden Vertrages. Die Schrift zu entziffern war schon schwierig gewesen. Der Inhalt war schlichtweg schockierend. Wir hatten zwar Auszüge aus diesem ominösen Vertrag gekannt und es wurde immer wieder darüber gesprochen – ich habe die Geschichtsbesessenheit schon erwähnt – doch gelesen haben wir das Ganze erst, als wir eine offizielle Abschrift davon erhielten. Vom Anwalt der von Diskrups. 

„Ja, das könnte man denken. Das ist das Problem. Dieser Ring kam nicht umsonst in meinen Besitz. Es war ein Tauschgeschäft.“ sagte Henriette gefasst. 

„Du hast einen unserer drei Siegelringe getauscht? Das geht doch gar nicht. Wir haben noch zwei und einer fiel in den Brunnen – bei diesem Fest, das etwas ausser Kontrolle geriet.“

„Der dritte Ring ist sicher verwahrt. Er ging nie verloren.  Ich liess eine Kopie herstellen. Eine Kopie, die fast perfekt ist. Die von Diskrups haben eine Kopie von dem Ring, der als verloren gilt. Und damit haben sie die Urkunde gefälscht.“

„Aber das können wir doch beweisen. Das ist perfekt.“

„Leider nicht. Wir haben unser Exemplar des Originalvertrages beim grossen Brand verloren. Die von Diskrups haben vielleicht noch ein Original, vielleicht auch nicht. Doch wenn wir jetzt offenlegen, dass dies eine Fälschung ist, werden sie das Original sicher zerstören und wir werden nie beweisen können, dass das, was sie nun geltend machen, eine Fälschung ist.“

Das leuchtete ein. Das tönte auch ganz nach einem Vorgehen der von Diskrups. 

„Wir müssen schlauer sein. Spielen wir das Spiel nach ihren Regeln mit. Vordergründig. Und im Hintergrund beschaffen wir uns das Original von ihnen.“

„Wie machen wir das? Ich kann mit Cosimo und Sebastian keine drei Worte sprechen, ohne von Wutwellen erfasst zu werden.“ 

Es machte keinen Sinn, etwas vor Henriette zu verstecken. 

„Das musst du auch nicht.“ Sie lächelte. 

„Das wird Xenia-Scarlett für uns tun.“

Stellas Pferdeschwanz schien sich zu einem Propeller zu wandeln. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie etwas ganz wunderbar fand. 

„Das Kind ist zwar nur sehr bescheiden mit Intelligenz gesegnet und zudem unglaublich von sich überzeugt, aber sie hat es geschafft, sich in die von Diskrup‘schen Kreise einzuschleichen. Ich bezweifle, dass sie einen eigenen Plan hat, der über „Frau vom reichsten Mann werden“ hinausgeht, doch das heisst nicht, dass wir sie nicht etwas instrumentalisieren können.“

„Du willst sie zur Spionin machen? Die kann doch kein Geheimnis für sich behalten.“ Ich blickte entsetzt. Schon wieder. 

„Sie muss es ja nicht wissen.“ sagte Stella. 

Henriette nickte zustimmend.

Xenia-Scarlett war plötzlich unsere Geheimagentin. Und meine Tante hatte ein Geheimnis, das sie uns nicht erzählen konnte. 

Wenn ich vor ein paar Wochen noch gedacht habe, dass ich einen langweiligen Herbst und einen tristen Winter auf einer Burg würde verbringen müssen, so habe ich mich geirrt. 

Das hier ist eindeutig spannender, als ich es mir gedacht habe.

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