Wie ich alleine hier auf dieser Burg gelandet bin? Das ist eine sehr lange Geschichte. Ich weiss, jede Geschichte fängt mit einer solchen Phrase an und jeder, der eine Geschichte erzählt, meint, seine Geschichte sei besonders erzählenswert und interessant. Das ist irgendwie auch völlig nachvollziehbar. Wenn der Erzähler die Geschichte nicht für erzählenswert halten würde, würde sie wohl kaum erzählt werden.
Ich kann mit ruhigem Gewissen behaupten, dass diese Einstellung auch auf mich zutrifft. Lest selber und bildet euch dann ein Urteil. Wenn ihr im Verlauf der Geschichte zum Schluss kommt, ich hätte mich geirrt und die Geschichte sei in keiner Weise so interessant und lesenswert, wie ich das behaupte, dann könnt ihr mich das wissen lassen. Ärgert ihr euch über die verschwendete Lesezeit sehr, dann schreibt mir ein Email (vena@schmuckburg.ch) oder einen Kommentar. Ist es euch nicht so wichtig, dann hört einfach auf zu lesen und schaut ein youtube-Video an.
Ich kann euch die Geschichte in voller Länge und mit allen Einzelheiten erzählen, denn ich habe Zeit. Viel Zeit sogar. Es ist Herbst, es ist grau, nass und ich bin alleine auf einer Burg. Und es windet. Habt ihr schon mal bemerkt, was für seltsame Stimmung aufkommt, wenn sich alles bewegt und der Wind das Kommando übernimmt? Gut, ich habe etwas zu viel Zeit, sonst würde ich wohl kaum auf solche Dinge achten. Ja, manchmal fürchte ich, aus mir wird eine dieser seltsamen alten Adelsdamen, die Tee trinken und Katzen streicheln und sich jeden zweiten Tag die Haare waschen und in eine starre und zementharte Hochsteckfrisur richten lassen. Irgendwann werden mir klassische Chanelkostüme in Pastellfarben anwachsen. Ich werde Perlen tragen, obwohl ich ganz und gar keine Perlenträgerin bin, und all das wird so schleichend geschehen, dass ich es nicht merken werde. Vermutlich während eines Herbstes.
Der Gedanke ist ziemlich erschreckend. Denn ich bin erst 25. Fast. Eigentlich 24 und ein paar Monate. Doch für das, was ich tue, ist es besser, dass ich nicht zu jung bin. Immerhin, 25 ist schon über die Hälfte von 20 und ziemlich nahe an 30. 30 ist erwachsen. Ich muss jetzt erwachsen sein. Denn auf mir lastet die Bürde, eine Familientradition und unseren Familiensitz zu retten. Ich töne etwas dramatisch. Das stimmt auch. Ich bin so. Ja, wenn der Preis für diese Rettung die Verwandlung in die komische alte Pastelldame ist, dann muss ich mir das wirklich nochmals überlegen. So sehr ich meine Familie und die Tradition und diese Burg liebe. Ich will nicht als Perlen- und Pastellgrufti enden.
Habe ich schon erwähnt, dass ich ein wenig dazu neige, zu dramatisieren? Ach ja, das habe ich. Soeben. Ich wiederhole mich auch. Und ich rede ziemlich viel. Wenn ich kann. Hier kann ich nicht. Denn ich bin alleine. Auch das habe ich schon erzählt. Mann, ich komme nicht weiter.
So macht das Ganze keinen Sinn. Ich muss euch die Geschichte richtig erzählen und mich dabei mit meinen Kommentaren zurückhalten. Das wird schwer. Zudem bin ich nicht sonderlich geübt im Schreiben von Geschichten. Ihr müsst daher etwas geduldig sein. Hinzu kommt, dass hier einiges los ist und ich das ja auch erzählen will. Mann, ich hätte in den letzte Jahren weniger SMS und mehr Aufsätze schreiben sollen. Das rächt sich jetzt ziemlich brutal. Kein Satz ist länger als ein Tweet. Ich bin deformiert.
Keine Zeit für Selbstmitleid. Ich habe etwas zu erzählen.
Am besten ich erzähl euch erstmal eine Kurzversion. Dann kann ich den Rest nach und nach einfüllen.
Unsere Familie ist sehr gross und sehr alt. Und wir sind arm. Sehr arm.
Die Burg war früher nur ein Spielplatz für Sommertage und eine Feierresidenz. Ja so etwas gibt es. Noch. Doch dann verloren wir ein Haus nach dem anderen und irgendwann hatten wir nichts mehr. Wir waren nur noch Pächter in unserem Landhaus und die meisten Verwandten legten ihre Adelstitel ab und fingen an, normale Berufe zu ergreifen. Das war eine sehr gute Phase und die meisten meiner Verwandten sind ganz normal und haben richtige Berufe, von denen sie sogar leben. Meine Kernfamilie ist da eine kleine Ausnahme.
Wir sind auch die, die auf die Burg aufpassen.
Um gleich ein potentielles Missverständnis aus der Welt zu schaffen. Die Burg ist nicht sonderlich wertvoll. Von der Substanz her ist sie baufällig und alt und der Horror eines jeden Heizungstechnikers. Im Vergleich zu dem, was wir hatten, ist die Burg geradezu ein Schuppen. Das sage ich jetzt nicht, um mich über die Burg zu beschweren. Ich bin stolz darauf, dass wir auf die Burg aufpassen und in gewisser Weise passt die Burg auf uns auf. Das tönt nun etwas sehr „gespenstergeschichtig“, doch es stimmt.
Um es auf den Punkt zu bringen. Wir sind adlig und wir sind arm, doch wir haben die Burg und solange man noch eine Burg hat, ist man wer. Das war ein geflügeltes Wort bei uns. Wir haben ja die Burg. Egal was war, egal wie schlimm. Wir hatten ja die Burg.
Das könnte jetzt das Ende der Geschichte sein. Glaubt mir, ich hätte nichts dagegen, eine normale, verarmte Adelstitelträgerin zu sein, die soeben das dritte Praktikum hinter sich gebracht hat und die keine Ahnung hat, was sie mit den nächsten drei Vierteln ihres Lebens anfangen soll.
Doch vermutlich sollte ich mich richtig vorstellen. So gut ich das kann. Ich bin Vena. Mein ganzer Name lautet Lady Vena Isabella Tyler-Fort von Tannenberg Hochstern. Ich nenne mich Vena Tyler-Fort. Meine Schwester Stella handhabt es mit dem Namen so wie ich. Also heisst sie Stella Tyler-Fort. Unsere Mutter ist Eventmanagerin. Weil sie viele Hochzeiten organisiert, benutzt sie den Namen Gräfin von Hochstern. Aus irgendeinem Grund kann sie sich rechtlich auch so nennen. Ich habe das nie so ganz verstanden. Mein Vater wiederum ist sehr bodenständig. Er nutzt den Namen Fort. Ganz ohne Titel. Das passt, denn er ist Geologe. Er forscht und forscht. Keiner von uns weiss, was er genau tut. Doch er tut es. Er trägt dabei meist Flanellhemden und sehr oft auch Gummistiefel. Wenn er Gummistiefel trägt, regnet es. Immer. Noch nie, ich meine wirklich nicht ein einziges Mal, hat es nicht geregnet, nachdem er Gummistiefel angezogen hatte. Er ist wunderbar.
Die anderen Familienmitglieder erwähne ich später. Es sind viele. Vielleicht sollte ich das aufmalen. Später.
Nun, zurück zur Burg. Es gibt viele Burgen. Nicht mehr ganz so viele sind in Betrieb und gut erhalten, doch es gibt einige. Nur unsere ist anders. Unsere vibriert vor Leben. Alle anderen Burgen sind kalt und grob. Die Schmuckburg ist aussen etwas rau und auch etwas verfallen, v.a. im linken Teil, doch sie ist innen gemütlicher als irgendein anderes Haus. Gut, ich sollte ehrlich sein. Die Burg ist äusserlich in einem sehr schlechten Zustand, doch den Kern haben wir immer erhalten und gepflegt. Ein wenig wie ein Kokon in einer grösseren Schutzhülle. Wir haben immer geschaut, dass nur das Gute in die Burg kommt. Andere bringen abgetragenes, unbeliebtes, sperriges Zeug in Burgen oder Ferienhäuser. Wir haben immer, immer nur Lieblingsstücke in die Burg gelassen. Und als wir alles verkaufen mussten, haben wir immer versucht, etwas Besonderes zu retten und in die Burg zu schaffen. So kamen Teppiche, Möbel, Lampen – viele, viele Lampen – Spiegel und Schatzkammerinhalte auf die Burg. Das hat natürlich zu einer gewissen Farbigkeit und Zusammengewürfeltheit geführt. Ich liebe das. Der Hauptflur hat drei verschiedene Tapetenmuster und die Türrahmen sind in einem warmen Rostton gestrichen. Wir haben es geschafft, dort vier verschiedene Kronleuchterchen aufzuhängen. Ich liebe diesen Flur.
Wenn ihr die Burg sehen könntet, würdet ihr mich verstehen. Wir achten auf die Burg. Und so haben wir immer etwas besonderes, auch nur für ein paar Tage. Denn das ist Tradition. Keiner bleibt auf Dauer auf der Burg. Man kann nicht in einer Traumwelt leben, sagte meine Grossmutter immer. Sie hatte unrecht. Man kann. Ich lebe hier. Doch sie hatte auch recht. Ein Traum ist es nicht. Es ist ziemlich leer und ziemlich einsam und sehr viel Arbeit.
Ich rücke lieber auch gleich mit dem Hautproblem unserer Familie heraus: Geschichtsbesessenheit. Mein Urgrossvater hat die Burg in einer dunklen Phase unserer Geschichte, als er viel Geld brauchte und gleichzeitig viel Geld verlor, verpfändet. An unsere Erzfeinde. Mehrfach haben diese versucht, das Pfandrecht abzulösen. Bisher immer ohne Erfolg. In unserer Familie wird über diese Sache geredet, als sei es erst gestern passiert. Dabei liegen mehr als hundert Jahre zwischen der Geschichte und heute.
Das zweite grosse Thema in unserer Familie sind die Erzfeinde. Das verstehe ich gut. Sie sind auch wirklich schlimm. Und es scheint, als würden sie mit jeder Generation schlimmer. Die jetzigen Stammhalter (sie nennen sich selber so) sind der Gipfel der Schleimigkeit.
Ausser der Tatsache, dass wir arm sind, eine sehr reiche Erzfeindfamilie haben, uns noch nach hundert Jahren über ein Pfandrecht ärgern und eine Burg am Hals haben, die wir nicht aufgeben wollen, sind wir recht fröhlich und normal. Ich mag meine Familie.
Gut, ich komme langsam in Schuss mit dem Schreiben. Ich will endlich erzählen, weshalb ich auf der Burg festhänge. Denn das tue ich. Eigentlich sollte ich mit einer Freundin durch Südamerika reisen. Ein halbes Jahr lang. Doch ich bin hier und es regnet und sie postet dauernd Fotos vom Strand.
Vor fast einem Jahr kam eine hohe Steuerrechnung zu uns nach Hause. Es waren irgendwelche Steuern auf Dinge, die wir gar nicht mehr besassen. Doch einer unserer Vorfahren hatte hier anscheinend etwas ungeschickt eingefädelt und das Resultat war diese hohe Rechnung. Gleichzeitig war eine krisenbedingte Eventflaute eingetreten. Meine Mutter langweilte sich. Es lief einfach nichts. Sie versuchte überall neue Kunden zu finden, doch in Zeiten der Krise und Unsicherheit werden nur wenige wirklich gute Feste gefeiert. Dabei sollte man gerade dann feiern. Wir haben das immer so gemacht und das waren meist die besten Feste. Aber wir sind auch verarmt. Also sollte man es vielleicht doch nicht ganz genau so machen wie wir.
Doch davon später mehr.
Mein Vater war – ich sage es direkt – arbeitslos. Seit längerer Zeit und er arbeitete an Projekten mit und forschte viel. Doch Geld kam keines rein. Und dann kam diese Rechnung und wir hatten ein Problem.
Das Problem hat einen Namen. Eigentlich sogar zwei. Ein Name ist Herr Strauch. Der andere Name lautet von Diskrup. Ihr ahnt es: die Erzfeinde. Herr Strauch ist der zuständige Steuerbeamte und er hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Geld einzutreiben. Indem er uns die Burg abnahm. Das wiederum hat die Erzfeinde auf den Plan gerufen. Sie wollten ihr Pfandrecht einlösen und die Burg an sich reissen. Eigentlich ist es ja nicht normal, dass der mit dem Pfandrecht die Pfandsache an sich reissen kann. Das ist sogar irgendwie illegal. Und eigentlich geht es die von Diskrups gar nichts an, was wir mit der Burg machen. Wenn sie verkauft wird, würden sie einfach ihren Geldanteil bekommen. Doch nein, unsere Vorfahren haben etwas anderes vereinbart. Etwas komplizierteres.
In etwa ist das Ganze so aufgebaut:
Das Geld für die Steuern muss her und der Beamte will die Burg verwerten lassen. Wenn die Burg verwertet – also verkauft – wird, bekommen die von Diskrups das Recht, die Burg zu übernehmen und zudem noch das damals geliehene Geld zurück. Horror. Horror im Quadrat. Schulden über Schulden und die von Diskrups als Burgherren.
Bisher hatten wir eine Art Gnadenfrist. Die lief diesen Sommer aus. Diesen Sommer. Ausgerechnet jetzt, wo wir die Steuerleute am Hals haben. Wie wir die Steuern bezahlt hätten, wenn nicht auch noch zufällig die Gnadenfrist hätte ablaufen müssen, wusste keiner.
Eine wirklich idiotische Situation, in die uns die Vorfahren da reingeritten haben. Immerhin, die Verträge sind nicht ganz so idiotisch, wie es jetzt tönt. Es hat noch ein paar Schutzmechanismen drin. Aber davon will ich jetzt nicht reden. Es ist und bleibt eine katastrophale Situation.
Das war eigentlich auch schon alles, was geschehen ist. Seitdem haben wir versucht, die Burg zu retten und wir hätten es beinahe geschafft. Doch es reichte nicht und so muss die Burg nun verkauft werden. Immerhin haben wir uns ein Jahr Frist heraus gehandelt. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir nichts anderes tun, als Zeit zu schinden. Doch diesmal ist das echt gut. Denn mit mehr Zeit können wir die Burg an den wirklich Höchstbietenden verkaufen und müssen sie nicht verschleudern. Doch die von Diskrups können die Burg auch in diesem Fall übernehmen. Wenn sie gleichviel oder mehr zahlen, als der Höchstbietende. Sonst bekommt sie der andere.
Ach, es ist alles so doof und kompliziert.
Ich hoffe kaskadenmässig:
1. Dass die Burg in unserem Besitz bleibt.
2. Dass jemand Nettes die Burg bekommt.
3. Dass jemand Blödes die Burg bekommt.
4. Dass die Burg sich in Luft auflöst.
5. Dass auf keinen, keinen Fall die von Diskrups die Burg erhalten.
Ich wohne vor allem hier, weil unsere Anwältin herausgefunden hat, dass die Erzfeinde ihr Pfandrecht nicht geltend machen können, solange ein Familienmitglied auf der Burg lebt. Ich war die einzige, die keine Stelle und keine Wohnung hatte, und so zog ich ein. Zuerst dachte ich, meine Eltern würden mich bald ablösen, doch dann geschah Folgendes:
Ich war eben erst eingezogen. Die Burg war so schön wie immer, doch es war auch etwas einsam. Ich liess mir von ein paar Freunden ein Wireless Internet legen und verbrachte die Tage damit, im Internet zu verfolgen, wie meine Freundin alleine durch die Welt reiste. An einem Morgen, ich wollte gerade einkaufen gehen, stand plötzlich Erzfeind Junior vor dem Tor. Sein überteuertes Auto stand grundlos schräg in der Einfahrt und im Auto wartete – was für eine Überraschung – eine Tussi mit gepunktetem Kopftuch und Sonnenbrille. Sie wollte aussehen wie ein Filmstar, doch anscheinend hatte ihr keiner gesagt, dass das in einem geschlossenen Sportwagen nicht wirklich gut aussah.
Erzfeind Junior grinste blöd. Sein Polohemd war betont sportlich und der Kragen war betont hochgeklappt. Die Sonnenbrille hielt er zwischen zwei Fingern. Er war schrecklich feriengebräunt.
„Lady Vena, gehst du etwa einkaufen?“ Sein Ton liess keinen Zweifel zu, dass er das abstossend fand. Wieso auch immer.
„Ich weiss nicht, was dich das angeht. Fahr bitte aus dem Weg, ich hole mein Auto“, sagte ich betont abschätzig.
„Ach, das Ei mit Rädern kommt doch auch neben meinem Wagen durch“, spottete er und schaute zu seiner Tussi. Die klatschte tatsächlich vor Begeisterung über den doofen Spruch in die Hände.
„Es ist ein Smart. Was willst du?“ Ich wollte ihn loswerden.
„Ah, dir nur das hier geben, von unserem Anwalt“, sagte er und zog einen Umschlag aus der Hosentasche. Einen zerknitterten Umschlag.
Ich nahm den Umschlag entgegen und drehte mich weg. Er stieg in seinen Wagen und spielte doof mit dem Gas. Dann fuhren sie davon. Ich ging zu meinem Smart und setzte mich hinein. Der Umschlag war tatsächlich von dem Anwalt.
Ich öffnete ihn und las. Mich traf fast der Schlag. Diese Fieslinge.
Das nächste, woran ich mich erinnere, war die Kanzlei meiner Anwältin und dort musste ich zuerst in eine Tüte atmen. Ich dachte immer, das würden nur Leute in Filmen tun. Doch es half. Während ich atmete, las die Anwältin.
Und dann ging sie in ein anderes Zimmer und ich hörte sie fluchen. Dann kam sie wieder, ging in ein weiteres Zimmer und telefonierte. Das dauerte nicht lange. Ich war unterdessen bei einem Kaffee mit Schuss angekommen und sie setzte sich zu mir. Ich mag den Sekretär der Anwältin. Der hat einen geheimen Alkoholvorrat und er rückt grosszügig damit raus.
„Also, das Schlechte ist, dass es stimmt. Das Pfändungshindernis gilt nur, wenn ein Familienmitglied auf der Burg und von der Burg lebt. Von Landwirtschaft lebt wohl keiner mehr. Also haben wir ein Problem. Das ist also das Schlechte.“
„Das habe ich verstanden. Gibt es auch etwas Gutes?“ Ich trank den Kaffee sehr schnell. Zu schnell.
„Nein. Sie müssen von der Burg leben. Sonst können die Erzfeinde die Pfändung verlangen.“
Ich fand super, dass sie die Schleimer auch „Erzfeinde“ nannte.
„Wie soll ich das machen? Bäuerin werden? Im Winter?“ Ich griff nach der Tüte. Vielleicht half es ja auch, wenn man sie zerdrückte. Es half nichts.
„Wir müssen uns etwas überlegen. Lassen sie den Kopf nicht hängen. Uns fällt schon etwas ein. In den nächsten 90 Tagen geschieht sicher nichts. Das habe ich so mit dem anderen Anwalt vereinbart.“
Sie wirkte optimistisch. Ich war es nicht.
Ich fuhr nicht auf die Burg, sondern zu meinen Eltern. Ihre Reaktion war nicht besser, als meine. Ich sah uns schon für den Rest unserer Tage in Tüten atmen, doch es kam zum Glück anders.
Meine Tante wurde herbeigerufen. Prinzessin Henriette. Sie war eine waschechte Adlige. Wir alle waren eher bodenständige Mischlinge. Doch sie war einfach perfekt. Keiner wusste, wie das geschehen war, doch alle fanden sie wunderbar. Henriette war zudem unglaublich klug.
Sie sah den Brief an. Sie lies sich den Vertrag nochmals zeigen und ich musste ihr ausführlich von dem Besuch bei der Anwältin erzählen. Das mit dem Kaffee liess ich aus. Dann sass sie da. Sagte nichts. Bis sie aufstand und sagte: „ Es hilft alles nichts. Vena, du musst die Burg verkaufen.“
Wir starrten sie an. Sie war an dem Ganzen zerbrochen. Sie war wahnsinnig geworden. Sie lächelte und klopfte mit ihren beringten Fingern auf die weichen Sessellehnen. Es klirrte hell und alle starrten auf ihren Schmuck. Sie trug viel Schmuck. Immer. Doch es wirkte nie überladen. Genau genommen konnte ich mir Henriette ohne Schmuck gar nicht vorstellen. Ich hatte sie nie anders gesehen. Einmal war sie in einem Krankenhaus. Ich war noch klein. Selbst wenn man ihr Zimmer nicht angeschrieben hätte, hätte man sie sofort erkannt. Sie thronte in ihrem Krankenbett, voller Ringe und Ketten. An ihr sahen sogar diese Schläuche in den Armen elegant aus. Doch ich schweife ab. Zurück zur Geschichte.
Sie sprach weiter, blickte in den Kronleuchter und verdrehte die Augen.
„Stück für Stück, meine ich“, sagte sie vorwurfsvoll und langsam, als ob sie mit sehr kleinen Kindern oder Hunden sprechen würde.
„Ich soll Steinstücke verkaufen?“ fragte ich. Ich fühlte, dass ich etwas sehr wesentliches nicht verstanden hatte. Ich dachte an die Berliner Mauer. Das war doch unangemessen.
„In gewisser Weise schon. Aber ich dachte eher an Glas“
Meine Mutter stand auf und rief: „Nicht doch! Die Fenster bleiben wo sie sind!“
Henriette schüttelte den Kopf. Dann sah sie mich an. Ihre Augen glitzerten aufmerksam. Deutlich sagte sie:
„Du sollst Schmuckstücke verkaufen. Das, was wir auf der Burg haben. Und noch ein paar andere Dinge. Und du solltest es langsam tun. Stück für Stück“, fügte sie hinzu.
„Herzchen, ich weiss, dass du nie gedachte hättest, so etwas von mir zu hören, doch streck das Ganze ruhig ein wenig.“
„Du meinst so wie Drogen?“
„Oder wie teuren Kaviar.“
Wir lächelten uns an. Wir verstanden uns.
Das war vor vier Wochen. Seitdem ist viel passiert.