Ich bin etwas unbegabt mit Glas. Eigentlich ein Witz, dass ausgerechnet ich die mit dem Schmuckversand bin. Ich bin auch nicht so gut mit Weihnachtsschmuck. Das habe ich von meinem Vater. Der zerstörte früher regelmässig Engel. Er brach den Kleinen die Flügel ab. Fragt nicht, wie das geschehen konnte. Das ganze wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Meine Mutter drohte schon im Oktober: „Geliebter, wenn du dieses Jahr wieder zum Engelverstümmler wirst, werde ich mich scheiden lassen.“ Sie sagte das immer in vollem Ernst und auch mit etwas Panik, denn sie mochte die Glasengel, von denen wir – so sagt es die Legende – einmal 111 Stück hatten. Aktuell sind es noch 23 der alten Garde. Ein Grossteil der Verluste ist auf den Weihnachtsbaumfall von 1974 zurückzuführen. Ein Labrador erkannte, dass der Baum mit echten Keksen dekoriert war und stürzte sich darauf. Der Baum fiel, wurde gelöscht (damals gab es noch kein LED!), der Stern zerbrach, wir verloren die Hälfte des antiken Baumschmucks und 34 Engel verloren Teile der Flügel oder andere Körperteile.
Danach ging immer mal wieder etwas in die Brüche und mein Vater stellte sich als Engelsmeuchler heraus. Egal wie sehr er sich bemühte, in dem Moment, in dem er eine der kleinen Figuren aus den Watteschachteln nahm, zerbrach etwas.
Einmal, als Stella und ich noch ziemlich klein waren, passierte es wieder. Wir waren auf der Burg, um dort Weihnachten zu feiern und wir schmückten den Baum. Das taten wir immer. Und eben da zerbrach wieder einer. Meine Mutter schrie nicht rum, nein, das würde sie nie tun. Sie ist eine Prinzessin. Sie sah, dass es ein weiteres Opfer gab und dass mein Vater mit einem komplett abgebrochenen Flügel neben dem Baum stand. Stella und ich schlichen uns aus dem Zimmer. Sie nahm ihm die Glasteile aus der Hand und stellte sich ans Fenster und fing leise an zu weinen. Mein Vater wollte zu ihr, doch sie sagte „nein, bitte, lass mich. Ich bin sentimental.“ Mein Vater ging in das sogenannte Herrenzimmer der Burg. Ich beschreibe euch das ein anderes Mal. Stella und ich teilten uns auf. Wir hatten die Szene durch den Türspalt beobachtet. Ich wusste, hier mussten wir dafür sorgen, dass unsere Mutter sich nicht aus Kummer aus dem Fenster stürzte. Um dies zu verhindern musste sie notfalls anfangen zu weinen oder sich übergeben. Sie musste einfach irgendwie die Aufmerksamkeit und die Fürsorge meiner Mutter für sich in Anspruch nehmen.
Ich würde mich derweil darum kümmern, dass wir Weihnachten nicht als Waisenkinder verbringen mussten (ich war schon als Kind sehr dramatisch). Auf dem Weg ins Herrenzimmer überlegte ich mir, wie ich meinen Vater von einem Suizid abhalten könnte. Ich entschloss mich, mich dramatisch auf ihn zu werfen. Mit diesem Plan stürzte ich in das Herrenzimmer, denn ich wollte Anlauf holen. Das war nicht nötig und ich stoppte wenige Meter vor meinem Vater. Er stand mit einem Bier in der Hand im Zimmer. Er hatte schon einen ziemlich grossen Whisky runtergekippt und spühlte nun offensichtlich mit Bier nach. Sehr untypisch. Doch keine Tabletten und kein Revolver waren zu sehen.
Er sah mich traurig an. Dann sagte er jene Worte, die ich jedes Jahr zur Einstimmung auf die Weihnachtszeit von ihm hören muss: „Diese sadistischen gläsernen Scheisswichser versuchen meine Ehe zu zerstören. Doch das lasse ich nicht mit mir machen. Ich werde es den Bastarden zeigen.“
Und dann stellte er ganz ruhig die Flasche auf einen Glasuntersetzer und küsste mich auf den Kopf. Dann fingen wir beide an zu lachen und wir hätten uns kaputtgelacht, wenn wir nicht plötzlich einen schmerzerfüllten Kinderschrei aus dem Salon gehört hätten, auf den eine unheimliche Stille folgte. Wir rannten beide los. Er war schneller. Logisch. Mein Vater riss die Türe auf und sah meine Mutter bebend über Stella gebeugt, die auf dem Teppich neben dem halbgeschmückten Weihnachtsbaum lag. Ich dachte für einen kurzen Moment, dass ich kein Einzelkind sein wolle und meine Schwester vermissen würde. Bevor mein Vater bei meiner Mutter angekommen war, sah diese ihn an und lachte. Sie lachte so sehr, dass sie kaum noch atmen konnte. Stella lag dramatisch ausgestreckt da, offensichtlich war sie nicht tot, sondern eine schlechte Schauspielerin.
„Das Kind hat mich gerade darüber orientiert, dass ihre Prostata explodiert sei“, brachte sie unter Tränen (Lachtränen) hervor.
Mein Vater nahm Stella auf und legte sie aufs Sofa. Sie blieb in ihrer Rolle und stöhnte etwas rum. Meine Eltern lachten so sehr, dass sie etwas unachtsam waren und einen der gläsernen Scheisswichser zerquetschten und ihm dabei das Genick brachen. Sie lachten weiter und schliesslich erwachte Stella aus ihrem Koma und setzte sich auf, um zu sehen, was los sei. Das hätte sie nicht tun sollen, denn da knutschten die Eltern gerade voll peinlich rum (es ist immer peinlich, wenn Eltern knutschen). Stella sagte: „Aufhören, das ist eklig und hier liegt ein halbtotes Kind“. Das half. Sie hörten auf und wir bekamen grundlos mitten am Nachmittag Eiscreme und Kuchen und Gummibärchen. Am Abend war uns dann etwas schlecht.
Das Thema Glasengel war vom Tisch. Wir sprachen nicht mehr darüber und die letzten 30 Engel mussten alleine für den mysteriösen Glanz eines ganzen Heeres sorgen. Doch nicht lange. Denn mein Vater hält, was er verspricht.
Am nächsten Hochzeitstag bekam meine Mutter keine Blumen und auch sonst kein Geschenk. Was sehr untypisch war. Die Stimmung war nicht so gut (mein Vater erzählt es so: „Es war, als sei die unterkühlte Schwester der Eiskönigin im Haus“) und dann kam am Abend ein sehr, sehr grosses Paket. In diesem Paket waren sehr viele kleine Pakete. Alle mit roter Schleife, alle in einem sehr edlen Crèmeton. Meine Mutter war verwirrt, doch nicht lange. Sie fing an, die Pakete zu öffnen. Das weiss ich jetzt nur aus den Erzählungen, denn logischerweise waren Stella und ich an dem Abend bei unserer Grossmutter.
Es stellte sich heraus, dass mein Vater erstens ein sehr lukratives Aktiendepot aufgelöst hatte und zweitens einen Glaskünstler in den siebten Himmel verfrachtete. Er hatte nämlich 111 neue Glasengel anfertigen lassen, mit extra stabilen Flügeln. „Damit eines klar ist, wenn einer von denen dich zum weinen bringt und meint, er könne hier einen auf „Flügelbruch“ machen, dann fliegt er ins Feuer und kommt als Bierflasche wieder zurück.“
Und so lernten Stella und ich völlig unpassende Fluchwörter und wir konnten unsere Eltern noch Jahre damit erpressen, uns sehr viele Gummibärchen zu geben, damit wir nicht an Taufen oder anderen Gelegenheiten danach fragten, weshalb denn hier so viel von den sadistischen gläsernen Scheisswichsern rumhängen, da diese doch die Prostata explodieren lassen konnten.
Und damit es kein schlechtes Karma oder böse Kommentare gibt: Wir Tyler-Forts sind unumstösslich pro Engel. Im Allgemeinen und Glasengel im Besonderen. Absolut. Sehen wir es mal so: Die haben unser bestes Aktiendepot in sich aufgeschmolzen und meine Eltern führen seitdem eine äusserst heitere Ehe.